Geschichten

Der Groschen

Was machen Kinder bei Eintönigkeit? Sie sind kreativ! Einfach so. So sind wir Menschen. Bis wir sie verlernen. Die Kreativität. Es kommt dann von außen, was zu tun ist. Unsere Kreativität verkümmert. Sie braucht unseren freien Geist, um zu sprudeln. Aber Kreativität kann man nicht messen und benoten. Schade!

Mein Schulweg war eintönig. Lange Straße geradeaus. Dann einmal rechts abbiegen. Also waren wir kreativ. Meine Schulfreundin und ich. Wir hätten einen Lutscher beim Bäcker bekommen. Für den Groschen. Aber nein. Der Groschen wurde auf einer Mauer unter Zweigen versteckt. Spannend! Würde er morgen noch da sein? Hatte ihn jemand gefunden und mitgenommen? Nein. Am nächsten Morgen? Nein. Er war erneut an jedem Morgen noch da. Wir hatten einen Heidenspaß. Und wir waren genial. Keiner konnte ihn finden. Den Groschen. Über Jahre. Und wir hatten jeden Morgen ein Etappenziel. Und eine riesige Freude. Freude ist so einfach wie Kreativität!

Jeden Morgen gingen wir zur gleichen Zeit los. Die Zwillinge aus unserer Klasse auch. Sie wurden allerdings gefahren. 1972 war das. Mit einem hellblauen VW Käfer. Er kam in der Regel genau dann an uns vorbei, wenn wir das Versteck für den Groschen sondierten. Lautstark und mit speziellem Rhythmus sangen wir dann „BU – A 529“. Das war das Autokennzeichen. Vom blauen Käfer. Das Kennzeichen konnte sich in unsere Köpfe einbrennen. Jeden Tag ein paar 100 Meter lang. Nach 50 Jahren kannst Du mich dafür nachts wecken. Ich verrate es Dir. So sind Kinder. Sind naturgegeben fröhlich und singen gern. Bis sie hören, sie sollen jetzt still sein. Ich war auch bald still. Und brav. In der Schule.

Unser letztes Etappenziel: Der Bäcker. Der, wo es den Lutscher gegeben hätte. Für den Groschen. Aber der Bäcker hatte auch Matschbrötchen. Was das ist? Ein profanes Schnittbrötchen und dazwischen ein zerdrückter Mohrenkopf. Ja, Mohrenkopf. Sie durften in den 70zigern noch so heißen. Heute übrigens auch. Ich gebe nichts auf political correctness. Ich kann schlecht englisch. Und ich lasse mir nicht den Mund verbieten. Mir willfährig Diskriminierung anhängen, nur weil ich deutsche Wörter benutze, deren Sinn andere umdefinieren. Das erinnert mich an meine Kindheit. Still sein. Brav sein. Nur nicht auffallen. Alles richtig machen, was von oben kommt.

Aber dafür scheint mein Leben wohl da zu sein. Ich erobere mir meine Kindheit zurück. Putzig. Aber so ist es. Und so erinnere und lebe ich nach und nach wieder von Herzen Kreativität und Freude. So wie sie aus mir heraussprudelt, umgarnt von Worten unserer wunderbaren deutschen Sprache.

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2 Kommentare
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Ulrike
12. September 2023

Ach liebe Silke, wie sprichst Du mir doch aus dem Herzen!!! 💞
Und Deine Website ist eine so kostbare Schatzkiste! Herzlichen Glückwunsch! Hier bin ich gern!

Silke Brünig
13. September 2023
Antwort auf  Ulrike

Liebe Ulrike, das freut mich 🤗💖

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